Wie sehr beeinflusst KI unser persönliches Leben? In diesem Artikel versuche ich anhand eines einfachen Beispiels Futter für eure Gedanken am Wochenende anzubieten.>
Meine Tochter feiert an diesem Wochenende ihren 30. Geburtstag. Neben einer zünftigen Feier, einem schönen Geschenk und viel guter Laune, darf auch ein Geburtstagsbrief nicht fehlen. Das Persönliche eines Briefes kann nur noch durch ein gutes Gespräch ergänzt werden. Ich weiss nicht, wie ihr euren Liebsten zum Geburtstag gratuliert – bei mir gehört ein Brief dazu.
Manchen mag das altbacken und aus der Zeit gefallen erscheinen. Reicht da nicht eine WhatsApp Nachricht? Für mich ist es eine Zeremonie. Natürlich schreibe ich den Brief in einem Texteditor vor, bevor ich ihn zu Papier bringe. Da ich viele Texte schreibe und auch gerne öffentliche Reden halte, fällt mir das Briefeschreiben nicht schwer. Ich geniesse es, mich in Gedanken und Formulierungen zu vertiefen. Wie war das vor 10 Jahren? Was haben wir vor 20 Jahren zusammen unternommen? Welche Wünsche kann ich für die Zukunft ausdrücken?
Obwohl mein Geburtstagsbrief nur 130 Wörter enthält, habe ich knapp 2 Stunden daran gefeilt, verbessert, verworfen und wieder umformuliert. Zum Schluss war ich damit sehr zufrieden. Der Brief war wohlgeformt, enthielt genau das, was ich meiner Tochter sagen wollte, und hat mich mit einer tiefen Zufriedenheit erfüllt. Ich war mir sicher, dass der Brief die Anerkennung und Gefühle für meine Tochter gut transportieren würde.
Dann kam die KI
Ein Effekt der allgegenwärtigen KI ist der Selbstzweifel. Diese Zweifel gab es bisher nicht. Zwar konnte man eine klassische Suchmaschine für Lösungen bemühen, um die Rechtschreibung zu korrigieren oder passende Aphorismen zu finden, doch die eigentliche Schöpfung lag immer noch in der eigenen Hand.
Die Gepflogenheiten ändern sich, weshalb ich dem Drang nicht widerstehen konnte, meinen fertig ausgearbeiteten Geburtstagsbrief mehreren KIs zum Frass vorzuwerfen – selbstverständlich in einer pseudonymisierten Form. Zu meiner Überraschung waren die GPTs, Copiloten und Perplexities einer Meinung. Hier ist die Analyse von Copilot unter Verwendung des GPT-5 Modells:
Prompt:
Ich habe einen Geburtstagsbrief an meine Tochter geschrieben. Sie feiert ihren 30. Geburtstag. Analysiere diesen Text im Kontext eines Geburtstagsbriefes: [der Text]
Antwort:
Dein Geburtstagsbrief ist sehr gelungen und erfüllt viele Kriterien, die einen persönlichen, wertschätzenden und inspirierenden Brief ausmachen. Hier ist eine Stärken-/Schwächen-Analyse (gekürzt) im Kontext eines Geburtstagsbriefes:
Stärken des Briefes:
- Herzliche und persönliche Ansprache
- Wertschätzung und Anerkennung
- Inspirierende Botschaft
- Struktur und Lesefluss
Verbesserungspotenzial:
- Mehr Emotion oder persönliche Erinnerung
- Stärkere Zukunftsperspektive
- Tonfall prüfen
Da die Verbesserungsvorschläge nur marginal waren, habe ich meinen Briefentwurf ohne Änderungen mit dem Füllfederhalter auf Briefpapier übertragen und in einen passenden Briefumschlag gesteckt. Ich bin mir sicher, dass sich meine Tochter darüber freuen wird.
Gründe
Dieser Artikel scheint eine einfache Anekdote zu sein, wirft jedoch generelle Fragen auf. Warum verwenden wir KI? Ist es die Schere im Kopf, oder FOMO, oder unser Drang zur Selbstoptimierung?
- Bei der Schere im Kopf handelt es sich um Selbstzensur, bzw. vorauseilenden Gehorsam. Ein klares Beispiel dafür, ist unser Handeln, wenn die Chat-Kontrolle kommt. Dann macht ihr keine freien Aussagen mehr, sondern schneidet eure Gedanken zurecht, bevor ihr sie äussert. Ursächlich ist dabei auch ein mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, weshalb ich diesen Aspekt für den Einsatz von KI als relevant erachte.
- FOMO, also die Angst, etwas zu verpassen, halte ich aus zwei Gründen für die Ursache von KI-Einsatz. Zum einen möchte man den KI-Trend nicht verpassen, um mitreden zu können. Zum anderen ist es die Befürchtung, ein besseres Ergebnis verpassen zu können.
- Auch der Drang zur Selbstoptimierung hat zwei Aspekte. Wir glauben, durch den KI-Einsatz unsere eigene Leistung verbessern zu können, sozusagen als Lerninstrument. Ausserdem sehen wir uns in Konkurrenz zu Arbeitskollegen. Wer nicht selbst KI einsetzt, wird von den Kollegen übertrumpft, die KI einsetzen.
Man könnte argumentieren, dass dieses Verhalten bei vielen technologischen Veränderungen zu beobachten war. Nehmen wir den Taschenrechner als Beispiel:
- Mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten: Ja
- Angst, etwas zu verpassen: Ja
- Drang zur Selbstoptimierung: Ja
Oder nehmt Flugzeuge, Aspirin, Feuer, Strom und Computer. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich das Leben zu erleichtern.
Wann ist man ein Mensch?
Der Geburtstagsbrief ist nur ein Beispiel für geistige Souveränität. Die grundsätzliche Frage lautet:
Genügt ihr euch als Menschen?
Hätte ich den Brief überwiegend der KI überlassen, wäre ich dann nicht mehr Mensch genug? Wir haben das Feuer entdeckt, um nicht zu erfrieren. Wir haben den Strom entdeckt, um zu kommunizieren. Wir haben Medizin entdeckt, um nicht zu leiden. Wir haben KI entdeckt, um … ?
Wo endet Menschlichkeit?
Nach langem Nachdenken komme ich zum Schluss, dass Menschlichkeit das Abschaffen der Menschlichkeit beinhaltet. Im Gegensatz zum Tier, arbeiten wir kontinuierlich an unserer Abschaffung. Da wir das können, ist es menschlich.
Dieser Artikel hat sich während des Schreibens entwickelt und verschiedene Richtungen eingeschlagen. Nun endet er mit einer philosophischen These.
Ich wünsche euch ein nachdenkliches Wochenende.
Titelbild: https://pixabay.com/photos/english-letter-correspondence-4152699/
Quelle: Meine Gedanken ohne KI-Beteiligung


